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LXXIV.

Die Mechanik der Gehörknöchelchen und

des Trommelfelles.

Aus Pflüger's Archiv für Physiologie. 1. Jahrgang. Separatabdruck. Bonn bei Max Cohen & Sohn. 1869.

Eine kürzlich in der Zeitschrift für rationelle Medicin ver- 1 öffentlichte Notiz aus dem Nachlass des der Wissenschaft leider zu früh entrissenen B. Riemann lehrt uns die Gedanken kennen, welche sich dieser mit einer so ungewöhnlichen Penetrationskraft ausgerüstete Geist in den letzten Monaten seines Lebens über die Aufgaben der physiologischen Akustik und über die Mängel ihrer bisherigen Lösungen gebildet hatte. Auch hier hatte er schnell wieder den wesentlichen Punkt herausgefunden, welcher das Centrum aller Schwierigkeiten bildet, und auf welchen zunächst die wissenschaftlichen Strebungen hin gerichtet sein müssen. Er hebt es als die Hauptaufgabe der Mechanik des Ohres hervor, die Möglichkeit zu erklären, dass der Trommelhöhlenapparat so ausserordentlich fein abgestufte Bewegungen von der Luft auf das Labyrinthwasser übertrage, wie er dies wirklich thut. Er belegt durch Rechnungen, dass die Excursionen des Steigbügels bei schwächeren, aber noch deutlich unterscheidbaren Tönen zum Theil so klein sein müssen, dass sie auch durch die stärksten Vergrösserungen unserer jetzigen Mikroskope nicht sichtbar gemacht werden könnten. Um Bewegungen von dieser Zartheit regelmässig und sicher zu übertragen, verlangt er eine entsprechende Präcision und Sicherheit in den Bewegungen des übertragenden Apparates.

Er spricht dabei aus, dass er der von mir in der Lehre von den Tonempfindungen vorgetragenen Theorie von den Bewegungen des Ohres vielfach entgegen zu treten genöthigt sein würde. Ich muss in dieser Beziehung bemerken, dass ich die Darstellung der Bewegungen des Trommelhöhlenapparates in 2 Abtheilung I, Abschnitt 6 des genannten Buches selbst nur als eine vorläufige, nach fremden Quellen gegebene betrachtet habe. Es war mir damals unmöglich eigene Untersuchungen auch noch über diese Frage anzustellen, obgleich ich die Nothwendigkeit neuer Untersuchungen darüber sehr wohl kannte. Ich habe mich also dort im wesentlichen der Darstellung von Ed. Weber1) angeschlossen, die den älteren Theorien gegenüber einen sehr wesentlichen Fortschritt enthält, und jedenfalls in ihren Grundzügen das Richtige trifft, wenn auch noch gewisse Ergänzungen und genauere Ausführungen derselben nicht entbehrt werden konnten.

Die Hauptschwierigkeit in dieser Theorie, welche mir auffiel, knüpfte sich an die Existenz des Hammerambossgelenkes. Nach Weber's Darstellung sollten Hammer und Amboss zusammen einen festen Winkelhebel bilden, dessen Drehungsaxe vom Processus Folianus des Hammers zur Spitze des kurzen Fortsatzes des Ambosses hinüberläuft. Wie war die Existenz eines von einer schlaffen und schwachen Kapselmembran zusammengehaltenen, in den meisten Richtungen sehr nachgiebigen Gelenkes in der Mitte dieses Hebels mit der hier nöthigen Sicherheit und Feinheit der Bewegungen zu vereinigen?

Sobald der Abschluss der physiologischen Optik mir Zeit zu anderen Untersuchungen liess, habe ich die oben bezeichnete Frage in Angriff genommen, und hatte die meisten der hier folgenden Resultate schon gewonnen, ehe mir Riemann's Notizen zukamen. 2) Die Auflösung der Schwierigkeiten, wie

1) Berichte über die Verhandlungen der Königl. Sächs. Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. Math.-Physikal. Classe. 1851. 18. Mai. S. 29-31.

2) Eine vorläufige kurze Darstellung derselben habe ich in der Sitzung des hiesigen naturhist.-medicinischen Vereins gegeben. Sitzung vom 26. Juli und 9. August 1867. Abgedruckt in den Heidelberger Jahrbüchern. (Vorige Aufsatz.)

sie sich bei genauerer Untersuchung der Mechanik der Gelenke und der Befestigungen der Gehörknöchelchen ergiebt, ist freilich eine ganz andere, als der berühmte Mathematiker sie sich gedacht zu haben scheint. Auch muss ich insoweit gegen seine Formulirung der Aufgabe des Gehörorgans Widerspruch erheben, als ich es durch die bekannten Thatsachen keineswegs für erwiesen halte, dass der Paukenhöhlenapparat völlig treu,,die Druckänderung der Luft in jedem Augenblicke in constantem Verhältniss vergrössert auf das Labyrinthwasser übertrage". Die Genauigkeit der Wahrnehmung erfordert nur, dass jeder Ton von constanter Höhe immer wieder, so oft er 3 vorkommt, eine Empfindung von gleicher Art und Intensität auslöse. Dass Töne gewisser Höhe das Ohr unverhältnissmässig stark afficiren, ist schon bekannt. Andere neue Beispiele von Abweichungen werden wir im Folgenden kennen lernen.

§ 1.

Was aus der Kleinheit der Dimensionen des
Gehörorgans folgt.

Der bedeutendste Fortschritt, welchen Ed. Weber in der Theorie der Schallleitung im Ohre gemacht, und der, vielleicht weil er in zu kurzer Weise von ihm mehr angedeutet als ausgesprochen war, noch immer nicht so vollständig, wie er es verdient, berücksichtigt wird, scheint mir in der Einsicht zu beruhen, dass die Gehörknöchelchen und das Felsenbein bei der Leitung der Schallschwingungen als feste, incompressible Körper, das Labyrinthwasser als incompressible Flüssigkeit zu betrachten sind. Er spricht es mit Recht aus, dass es sich hier nicht um Fortleitung von Verdichtungs- und Verdünnungswellen in diesen Körpern und Flüssigkeiten handle, sondern dass die Gehörknöchelchen als feste Hebel, das Labyrinthwasser als eine nur im Ganzen zu bewegende Flüssigkeitsmasse zu betrachten seien.

Ich erlaube mir zunächst diesen Punkt, der die Grundlage aller der folgenden Untersuchungen bildet, näher zu begründen.

Wenn in einem nach allen drei Dimensionen des Raumes unendlich ausgedehnten elastischen Medium, sei es nun fest, flüssig oder luftförmig, ebene Wellen erregt werden, die einem einfachen Tone entsprechen, so schreiten diese mit der ihrer Schwingungsweise zukommenden Schallgeschwindigkeit in der elastischen Masse fort und erregen an verschiedenen Stellen der Masse theils Verschiebungen der Theilchen, theils auch, wenn sie von longitudinalen Schwingungen herrühren, Verdichtungen der Masse. Befinden sich zur Zeit an einem bestimmten Punkte der Masse Theilchen, die in ihrer äussersten Abweichung nach oben begriffen sind, so sind um eine halbe Wellenlänge davon entfernt andere zu finden, die in äusserster Verschiebung nach unten begriffen sind; dasselbe gilt für die übrigen Verschiebungsrichtungen. Zwischen diesen Grenzen äusserster Verschiebung nach oben und nach unten, die also in dem vorausgesetzten Falle immer mindestens um eine halbe Wellenlänge auseinanderliegen, finden wir in continuirlichem 4 Uebergange die geringeren Grade der Verschiebung nach oben, den Nullwerth dieser Verschiebung und die geringeren Grade der Verschiebung nach unten, sodass der Unterschied in der Verschiebung zweier oscillirender Theilchen, deren Entfernung verschwindend klein gegen die Wellenlänge ist, selbst verschwindend klein ist gegen die ganze Amplitude der Verschiebung. Beschränken wir uns also in einem solchen Falle auf die Betrachtung eines kleinen Theils der schwingenden Masse, dessen Dimensionen alle verschwindend klein sind verglichen mit der Wellenlänge, so werden auch die relativen Verschiebungen der einzelnen Punkte dieser kleinen Masse gegen einander verschwindend klein sein müssen im Vergleich mit der Amplitude der ganzen Schwingungen, die selbst immer bei regelmässig fortgepflanzten Schallschwingungen als verschwindend klein gegen die Wellenlänge betrachtet werden muss. Jene relativen Verschiebungen der einzelnen Punkte der kleinen Masse, die wir uns ausgeschieden denken aus dem Ganzen, gegen einander sind also verschwindend kleine Grössen zweiter Ordnung im Vergleich zur Wellenlänge, verschwindend kleine Grössen erster Ordnung im Vergleich zu den Amplituden der Schwingung und zu den

linearen Dimensionen der kleinen Masse, der sie angehören. Das heisst: diese bewegt sich in dem genannten Falle merklich so, wie es ein absolut fester Körper thun würde.

Das Verhältniss wird nicht geändert, wenn eine grosse Zahl ebener Wellen, die demselben einfachen Tone angehören, die elastische Masse durchziehen; auch nicht wenn Kugelwellen, von irgend welchen Erregungscentren in der Masse ausgehend, sich durch dieselbe verbreiten, ausgenommen in nächster Nacl:barschaft von punktförmigen oder linienförmigen Erregungscentren selbst, deren Vorkommen aber mehr eine mathematische Fiction als ein praktisch vorkommender Fall ist.

Derselbe Satz bleibt nun auch für feste elastische Körper gültig, wenn ihre Masse nicht unendlich ausgedehnt ist nach allen Seiten, sondern Grenzen hat, an denen die Schallwellen zurückgeworfen wieder in das Innere der Masse zurückkehren; vorausgesetzt nur, dass entweder keine einzelne Dimension der schwingenden Masse sehr klein im Vergleich zur Wellenlänge werde, oder aber dass dieses mit allen Dimensionen der schwingenden Masse gleichzeitig geschehe, sodass keine derselben sehr klein gegen die übrigen wird, wie dies bei Platten, Membranen, Stäben, Saiten der Fall wäre.

Der Beweis für diese Sätze erhellt, so lange nur von ebe- 5 nen Wellen einfacher Töne in unendlich ausgedehnten Massen die Rede ist, leicht aus den bekannten Sätzen über die Form und die Schwingungsweise der ebenen Wellen. Der Einfluss der Grenzflächen dagegen und der letztgenannten Bedingungen ist von Kirchhoff entwickelt worden in seiner Abhandlung über das Gleichgewicht und die Bewegung eines unendlich dünnen elastischen Stabes.1) Allerdings ist in dieser Abhandlung zunächst nur vom Gleichgewichtszustande solcher elastischer Massen die Rede, und wird daselbst bewiesen, dass Kräfte, welche unendlich klein sind, verglichen mit den Elasticitätsconstanten des Körpers, und welche theils die innern Theile, theils die äussere Oberfläche der elastischen Masse angreifen, nur unendlich kleine relative Verschiebungen solcher

1) Borchardt's Journal für reine und angewandte Mathematik LVI. in § 1 der genannten Abhandlung.

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