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Zunächst dürfte eine Inconsequenz, in welche die herrschende Elektricitätstheorie bei der Elektrolyse geräth, hervorgehoben werden. Dieselbe ist nämlich nicht abgeneigt, zuzugestehen, dass der Vorgang blos von den ponderablen Atomen vermittelt wird, dass eine Leitung, wie in den Metallen, wo sie die Fluida sich von den Molekülen trennen lässt, nicht besteht. Dennoch statuirt sie eine solche [54] Leitung wieder stillschweigend, um die freie Elektricität, welche, wie Kirchhoff gezeigt, alsdann auf der Oberfläche sich befinden muss, zu gewinnen.

Clausius denkt sich, analog wie in der Ampère'schen Hypothese über die Magnetisirung, die Moleküle des flüssigen Elektrolyten stets in so lebhafter Bewegung, dass bereits gegenseitige Zerlegungen eintreten und ein fortwährender Austausch der Ionen bei diesen Aenderungen der Lage sich einstellt. Derselbe ist aber unregelmässig und so anzusehen, dass er nach allen Richtungen gleichmässig vor sich geht, und die Ausscheidung der Ionen nicht vorkommen kann. Beim Durchgang des Stromes treten dann zwei einander entgegengesetzte Richtungen vorwiegend ein. Bis hierhin vermochte ich der Auffassung Clausius' zu folgen; dagegen wird es mir schwer einzusehen, wie dadurch, dass die wirksame Kraft auf der Oberfläche die unregelmässigen Bewegungen sämmtlicher Ionen nach den Richtungen des Stromes modificirt, eine ganz bestimmte, der Stromstärke proportionale, Anzahl von Theilmolekülen in positiver und negativer Richtung durch den Querschnitt überwiegend in der Zeiteinheit getrieben werden. Ich vermag mir nicht zu deuten, warum der Widerstand der Elektrolyten im umgekehrten Verhältnisse zum Querschnitte steht.

Aus Clausius' Theorie erklärt sich die Thatsache, dass das Leitungsvermögen der Elektrolyte mit der Temperatur beträchtlich steigt, in ungezwungener Weise, indem die grössere Lebhaftigkeit der inneren Bewegung, welche wir nach den neuen Ideen als höheren Wärmezustand wahrnehmen, die gegenseitigen Zerlegungen der Moleküle erleichtert. Gemäss derselben dürfte man aber auch erwarten, dass die Elektrolyse im gasförmigen Aggregatzustande, in welchem diese Bewegungen ja so beträchtlich werden, dass sie sich in dem Drucke auf die Wände des Gefässes geltend machen, leicht auftrete. Aber hier ist sie bekanntlich nicht nachzuweisen.

[55] In der Erklärung Clausius' wird der Verschiedenheit in den Geschwindigkeiten der beiden Ionen eine sehr unter

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W. Hittorf. Ueber die Wanderungen der Ionen.

geordnete Bedeutung beigelegt, und es muss daher auffallen, dass ich auf die Ermittelung derselben die Zeit und Mühe, welche zahlreiche quantitative Analysen erfordern, verwandt habe. Zu meiner Entschuldigung mögen die folgenden Angaben dienen.

Sehr bald zeigten sich in den Resultaten meiner Arbeit Beziehungen zwischen jenen Bewegungen und dem chemischen Charakter der betreffenden Ionen. Die Thatsache, die ich in der zweiten Mittheilung niedergelegt und keine Beachtung gefunden, dass die chemisch so ähnlichen Elektrolyte CIK, BrK, JK, CINH1 u. s. w. gleiche Ueberführungsverhältnisse bieten, steht nicht isolirt, sondern stellt sich wahrscheinlich überall ein, und wird nur durch die störenden Einwirkungen des Lösungsmittels leicht verdeckt. Ich habe absichtlich bis jetzt nur solche Fälle der Elektrolyse veröffentlicht, welche den herrschenden Ideen entsprechen. Früh stiess ich aber auf einen Elektrolyten, dessen beide Ionen ganz entgegen denselben, nicht mehr nach entgegengesetzten Richtungen getrieben werden, sondern nach demselben Pole und zwar nach der Anode wandern, obgleich sie an verschiedenen ausgeschieden werden. Die Flüssigkeit um die Anode zeigt nämlich sowohl von dem Anion, wie von dem Kation einen Ueberschuss nach der Elektrolyse, während der entsprechende Verlust für beide an der Kathode sich einstellt. Die übergeführte Menge des Anions beträgt natürlich hier mehr wie die von demselben freigewordene. Der Verfolg der Untersuchung lehrte, dass eine zahlreiche und chemisch bestimmt charakterisirte Klasse von Elektrolyten dieses Verhalten theilt. Ich hege die Hoffnung, dass es mir gelingen werde, die chemischen Verbindungen, welche Elektrolyte sind, bestimmter definiren zu können, als es von Faraday geschehen ist. Das Gesetz, welches er in dieser Beziehung aufstellte, dass die Elektrolyte ihre Ionen nach einfachen Aequivalenten enthalten, kann nicht aufrecht erhalten [56] werden, wenngleich die Beispiele, welche Matteucci und E. Becquerel als demselben widersprechende aufgeführt haben, mit wenigen Ausnahmen unrichtige sind.

Ich bedauere sehr, dass die Zeit, welche meine Berufsgeschäfte mir lassen, und die ungünstigen Verhältnisse, unter denen ich diese Arbeit ausführte, mir nicht gestatteten, dieselbe schnell zu beendigen. Doch hoffe ich im Laufe des Winters sie soweit zu führen, dass ich die Untersuchung vorläufig abschliessen und der Oeffentlichkeit übergeben darf.

Anmerkungen.

Die Untersuchungen W. Hittorf's: Ueber die Wanderungen der Ionen während der Elektrolyse sind in den Jahren 1853 bis 1859 in Poggendorff's Annalen der Physik und Chemie, Band 89, 177-211; 98, 1—33; 103, 1—56; 106, 337— 411 und ebenda 513-586 veröffentlicht worden. Der vorliegende erste Theil enthält die in den Bänden 89, 98 und 103 veröffentlichten Arbeiten; der zweite Theil wird die im Bd. 106 abgedruckte Abhandlung bringen. Der Abdruck ist textgetreu ; die in eckige Klammern [] gesetzten Zahlen geben die Seitenzahlen des ursprünglichen Abdruckes in den » Annalen «. Indessen muss bemerkt werden, dass der hier mitgetheilte Abdruck nicht ganz vollständig ist, da auf Wunsch des Herrn Verfassers ein Theil der Abhandlung im Bd. 103, nämlich S. 1-33 fortgeblieben ist. Derselbe enthält polemische Auseinandersetzungen Hittorf's mit gleichzeitigen Forschern. So lehrreich dieselben als drastische Illustration der Schwierigkeiten sind, mit denen die Auffassungsweise Hittorf's, die offenbar auch den hervorragenden Elektrikern jener Zeit völlig fremdartig erschien und welche inzwischen zu glänzenden Erfolgen geführt hat, zur Zeit ihrer ersten Veröffentlichung zu kämpfen hatte, so glaubt der Herausgeber doch auf den oben erwähnten Wunsch eingehen zu sollen. Denn jener Band der Annalen ist nicht so schwer zugänglich, dass nicht jeder, der dieses lehrreiche Capitel zum intellectuellen Trägheitsgesetz behufs eigener Erbauung studiren will, diesen Theil der Hittorf' schen Arbeit leicht erlangen könnte.

Die Bedeutung der hier wieder abgedruckten Arbeiten liegt darin, dass sie den ersten entscheidenden Schritt zur anschaulichen Analyse der Vorgänge bei der elektrolytischen Stromleitung über die fünfzig Jahre vorher von Grotthuss angegebenen Vorstellungen hinaus enthalten. In musterhafter Folgerichtigkeit gelangt Hittorf, von einfachen, wohlbekannten

Thatsachen ausgehend und jeden weiteren Schritt durch die genauesten und geduldigsten Messungen sichernd, zu Schlüssen über das Wesen der Elektricitätsleitung und die Beschaffenheit der Elektrolyte, welche erst in neuester Zeit in ihrer ganzen Bedeutung erkannt worden sind. Wenn jetzt, wie es den Anschein hat, insbesondere auf Grund der von S. Arrhenius angebahnten Ideen, nicht nur die Lösung des hundertjährigen Räthsels der >> Berührungselektricität«, sondern auch eine neue Epoche der Chemie, die einer rationellen elektrischen Theorie der chemischen Verwandtschaft (welche von der rein formalen Elektrochemie des grossen Schweden Berzelius gänzlich verschieden ist), in unmittelbarer Aussicht steht, so muss betont werden, dass diese Ideen ihre Wurzel in den Arbeiten Hittorf's haben, und dass viele derselben sich bereits mit grösserer oder geringerer Deutlichkeit in denselben ausgesprochen finden.

Diese Arbeiten sind aber nicht nur in gedanklicher, sondern auch in experimenteller Hinsicht classisch zu nennen. Denn sie bilden noch jetzt die Hauptquelle unserer Kenntniss der numerischen Verhältnisse der fraglichen Erscheinungen; trotz einer Reihe verdienstlicher weiterer Arbeiten auf diesem Gebiete sind die Untersuchungen Hittorf's in Bezug auf den Umfang der behandelten Probleme und die Fülle exakter Maassbestimmungen nicht wieder erreicht worden. Ihnen verdanken wir nicht nur die klare Darlegung des Problems, sondern auch die sichersten Methoden zu seiner Lösung, und wenn die benutzten Apparate später auch diese und jene Abänderung erfahren haben mögen, so ist es nur geschehen, um bestimmte, schon von Hittorf an die Versuchsform gestellte Bedingungen besser zu erfüllen.

1) Zu S. 14. In Bezug auf die von Hittorf angewandten chemischen Formeln soll erinnert werden, dass der Verfasser sich der Gmelin'schen Aequivalentzahlen OS, S=16, Cu= 31,5, N = 14, H 1 u. s. w. bedient, welche bei zwei- und vierwerthigen Elementen die Hälfte der gegenwärtig üblichen Atomgewichte betragen, während sie bei unpaarwerthigen mit letzteren übereinstimmen; sie haben in dem gegebenen Falle die Bequemlichkeit, dass sie meist auch elektrochemisch äquivalente Mengen bezeichnen. Die Formeln N, SCu etc. sind eine von Berzelius eingeführte, jetzt fast völlig verlassene Abkürzung, indem die Anzahl der vorhandenen Sauerstoffäquivalente durch eine gleiche Zahl von Punkten über dem Zeichen des mit Sauerstoff verbundenen oder verbunden gedachten Elementes dargestellt wird.

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2) Zu S. 28. Äe bedeutet die » wasserfrei gedachte « Essigsäure, C1 H ̧ O ̧ nach damaliger Schreibweise (nach der gegenwärtigen C, H, O2 minus H2O).

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3) Zu S. 30. Diese über die zuerst erhaltenen Ueberführungszahlen angestellten Betrachtungen zeigen, wie der Verfasser im Anfange seiner Untersuchung noch unter dem Einfluss der damals herrschenden elektrochemischen Theorie von Berzelius stand. In der Rechtfertigung S. 53 (vergl. S. 82) wurden sie von ihm zurückgenommen.

4) Zu S. 36 u. 53. Die Angaben der zweiten Mittheilung über die gleichzeitige Zersetzung des Wassers S. 3 (vergl. S. 36) und die S. 53 unternommene Berechnung der Grösse dieser Zersetzung wurden in der Rechtfertigung S. 35 u. 36 (vergl. S. 66 u. 67) als unhaltbar nachgewiesen. Denn die kleinen Unterschiede, welche man in den Ueberführungszahlen erhält, je nachdem man das Anion oder Kation desselben Elektrolyten quantitativ bestimmt, auf welchen obige Rechnung basirt, sind gar nicht von der Wasserzersetzung, sondern von den Fehlern der quantitativen Analyse bedingt.

5) Zu S. 64. Die Paragraphen 1 bis 5 enthalten die S. 85 erwähnte Polemik und sind fortgeblieben. Die neuen experimentellen Mittheilungen beginnen mit § 6.

6) Zu S. 79. Diese Vermuthung entspricht vollkommen den jetzt bekannten Thatsachen. Hittorf ist nicht dazu gelangt, sie zu prüfen.

7) Zu S. 82. Auf diese Fragen geht Hittorf in seiner späteren Arbeit, § 68 der dritten Mittheilung, näher ein; es sei daher hier auf dieselbe verwiesen.

8) Zu S. 82. In diesem Satze ist der Ausgangspunkt der von Arrhenius aufgestellten Theorie der freien lonen zu sehen. Ebenso führen die nachfolgenden Darlegungen zu dem unausweichlichen Schluss, dass die freie Elektricität auf der Oberfläche elektrolytischer Leiter nur durch freie Ionen bedingt werden kann. Allerdings hat Hittorf sich begnügt, auf die Consequenzen hinzuweisen, und die weitere Verwerthung dieser eminent fruchtbaren Ideen der Entwickelung der Wissenschaft überlassen.

Leipzig, Januar 1891.

W. Ostwald.

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