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die genügende Grundlage zur Entwickelung der Raumlehre1) abgeben. Ich habe schon hervorgehoben, dass dieselben Postulate auch von der gewöhnlichen Geometrie, wenn auch stillschweigend, als richtig vorausgesetzt werden müssen, und unsere Postulate also weniger annehmen, als die gewöhnlich geführten geometrischen Beweise voraussetzen.

Zugleich mache ich darauf aufmerksam, dass die ganze Möglichkeit des Systems unserer Raummessungen, wie in dieser Entwickelung deutlich heraustritt, von der Existenz solcher Naturkörper abhängt, die dem von uns aufgestellten Begriffe fester Körper hinreichend nahe entsprechen. Die Unabhängigkeit der Congruenz vom Orte, von der Richtung der sich deckenden Raumgebilde, und von dem Wege, auf dem sie zu einander geführt worden sind, ist die Thatsache, auf welche die Messbarkeit des Raumes basirt ist.

1) Sie scheiden aber noch nicht zwischen Euklid und Lobatschewski.

LXXIX.

Ueber den Ursprung und Sinn der geometrischen Sätze; Antwort gegen Herrn Professor Land.

Originaltext für die in „Mind" April 1878 No. X. p. 212–224 veröffentlichte englische Uebersetzung.

Herr Professor Land hat in Nr. V. des „Mind“ mete Abhandlung „,Ueber den Ursprung und die Bedeutung derg metrischen Axiome") einer Kritik unterzogen, auf welche ich hier zu antworten versuchen werde.

Es sind wesentlich zwei Punkte, über welche wir v schiedener Meinung sind.

Ich halte dafür, dass durch die neueren Untersuch über die erweiterten Formen der Geometrie, oder dur sogenannten metamathematischen2) Untersuchungen folg Sätze festgestellt sind:

1) Kant's Beweis für den Ursprung a priori der ge metrischen Axiome, welcher darauf basirt ist, dass keine v denselben abweichenden Raumverhältnisse in der An-chat auch nur vorgestellt werden können, ist unzureichend, da de a Grund angeführte Behauptung thatsächlich unrichtig ist.

2) Wenn trotz der Mangelhaftigkeit des Beweises Annahme festgehalten wird, dass die Axiome als G

1) S. meine Populäre wissensch. Vorträge. Heft III. S. 21-54. 2) Der Namen ist allerdings in ironischem Sinne von Geger (“ geben, nachgebildet der Metaphysik. Da aber die Bearber Nicht-Euklidischen Geometrie deren objective Wahrheit m hauptet haben, so können sie den Namen sehr wohl acceptiren.

unserer Raumanschauungen wirklich a priori gegeben wären, so würden zweierlei Arten der Gleichwerthigkeit von Raumgrössen unterschieden werden müssen, nämlich:

1) Die subjective Gleichheit in der hypothetischen transcendentalen Anschauung.

2) Die objective Gleichwerthigkeit der reellen Substrate solcher Raumgrössen, welche sich im Ablauf physischer Verhältnisse und Vorgänge bewährt.

Dass die letztere mit der ersteren zusammenfiele, könnte nur durch Erfahrung bewiesen werden. Nur auf die letztere käme es an bei unserem wissenschaftlichen und praktischen Verhalten der objectiven Welt gegenüber. Wenn beide nicht übereinstimmten, würde die erstere nur den Werth eines falschen Scheines haben.

Uebrigens ist es ein Missverständniss von Herrn Professor Land, wenn er glaubt, ich hätte gegen die Auffassung des Raumes als einer uns Menschen a priori gegebenen, für uns nothwendigen, also in Kant's Sinne transcendentalen Form der Anschauung Widerspruch erheben wollen. Das war durchaus nicht meine Absicht. Freilich werden meine Ansichten über die Beziehungen zwischen dieser transcendentalen Form und dem Reellen, wie ich sie im dritten Abschnitte dieser Abhandlung auseinandergesetzt habe, wohl nicht ganz nach dem Sinne vieler Anhänger Kant's oder Schopenhauer's sein. Aber der Raum kann eine solche Form der Anschauung im Kant'schen Sinne sein, ohne dass diese Form der Anschauung nothwendig die Axiome einschliesst.

Um an ein ganz ähnliches Verhältniss zu erinnern, so liegt es unzweifelhaft in der Organisation unseres Sehapparates, dass Alles, was gesehen wird, nur als eine räumliche Vertheilung von Farben gesehen werden kann. Das ist die uns angeborene Form der Gesichtswahrnehmungen. Aber durch diese Form ist in keiner Weise präjudicirt, wie die Farben, welche wir sehen, sich räumlich neben einander ordnen und zeitlich auf einander folgen sollen. In demselben Sinne, meine ich, könnte das Vorstellen aller äusseren Objecte in Raumverhältnissen die einzig mögliche und a priori gegebene Form sein, in der wir Objecte überhaupt vorstellen können, ohne dass dadurch

Helmholtz, wissenschaft!. Abhandl. II.

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irgend eine Nöthigung gesetzt zu sein braucht, dass nach oder neben gewissen bestimmten Raumwahrnehmungen eine andere bestimmte eintreten müsse, dass also zum Beispiel jedes gerai linige gleichseitige Dreieck Winkel von 60° habe, wie gross auch die Seiten sein mögen. Bei Kant allerdings ist der Beweis, dass der Raum eine a priori gegebene Form der Anschauung sei, wesentlich gestützt auf die Meinung, die Axiome seien synthetische Sätze, gegeben a priori. Wenn man aber auch diesen Satz und den darauf gestützten Beweis fallen lässt. so könnte immerhin doch noch die Form der Raumvorstellung. als die nothwendige Form der Anschauung des Nebeneinanderstehens von Verschiedenem, a priori gegeben sein. Es würde dabei kein wesentlicher Zug des Kant'schen Systems verloren gehen, im Gegentheil würde dieses System an Consequenz w Verständlichkeit gewinnen, weil damit auch der wesentlich au die überzeugende Kraft der geometrischen Axiome gebaute Beweis für die Möglichkeit einer Metaphysik fortfiele, ve welcher Wissenschaft Kant selbst doch weiter nichts zu e decken wusste, als die geometrischen und naturwissenschaftlichen Axiome. Was die letzteren betrifft, so sind sie theils vou bestrittener Richtigkeit, theils einfache Folgerungen aus den Principe der Causalität, das heisst aus dem Triebe unseres Verstandes, alles Geschehende als gesetzmässig, d. h. als begreiflich zu betrachten. Da nun Kant's Kritik sonst übera gegen die Zulässigkeit metaphysischer Folgerungen gerichte: ist, so scheint mir sein System von einer Inconsequenz betret und ein klarerer Begriff von dem Wesen der Anschauung gewonnen zu werden, wenn man den apriorischen Ursprung der Axiome aufgiebt, und die Geometrie als die erste wi vollendetste der Naturwissenschaften ansieht.

Ich gehe jetzt zum Beweise der beiden oben hingestelltes Thesen über.

I.

Der Ursprung der geometrischen Axiome a priori ist nicht erwiesen. Kant's Beweis dafür stützt sich auf die Behauptung, man könne keine von der Geometrie des Euklides abweichenden Raumverhältnisse sich anschaul

vorstellen. Nun haben aber die von mir in meinem früheren Aufsatze besprochenen metamathematischen Untersuchungen, d. h. die Untersuchungen über logisch consequente Systeme der Geometrie, die in Bezug auf die Zahl der Dimensionen oder in Bezug auf die Axiome abweichen von Euklid's Geometrie, gezeigt, dass man in der That solche Systeme aufstellen und vollkommen consequent durchführen kann, ebenso wie die dazu gehörigen Systeme der Mechanik. Ich selbst habe mich bemüht nachzuweisen, wie die Objecte in einem sphärischen oder pseudosphärischen Raume uns in der sinnlichen Wahrnehmung erscheinen würden. Ueber die Richtigkeit jener hauptsächlich im Wege der analytischen Geometrie ausgeführten geometrischen Deductionen, soweit sie mathematisch sind, ist, so viel ich sehe, keine Frage, ebenso wenig über die vollständige Durchführbarkeit der entsprechenden Systeme der Mechanik, welche denselben Grad freier Beweglichkeit fester Körper und dieselbe Unabhängigkeit des Verlaufes aller mechanischen und physikalischen Processe vom Ort, wo sie vorgehen, ergeben, wie die Euklidische Geometrie diese voraussetzt. Dann ergiebt sich auch leicht und unzweideutig, wie die entsprechenden

zur

Raumunterscheidung brauchbaren Sinnesempfindungen menschlicher Wesen in solchen metamathematischen Räumen ausfallen müssten. Namentlich ergiebt die von Herrn Beltrami gefundene Darstellungsweise des pseudosphärischen Raumes in einer Kugel des Euklidischen Raumes unmittelbar, welche Gesichtsbilder der pseudosphärische oder sphärische Raum ergeben würde. In der That würde jedes Gesichtsbild ruhender Objecte für den ruhenden Beobachter genau dasselbe1) sein, wie das des entsprechenden Abbildes in Beltrami's Kugel vom Mittelpunkte aus gesehen. Unterscheiden würde sich nur die Folge der Gesichtsbilder, welche eintreten, wenn der Beobachter oder wenn feste Objecte sich bewegen. Also die Regel, nach welcher aus einem oder mehreren zuerst gegebenen Gesichtsbildern bei der Bewegung sich andere folgende herleiten, würde verändert sein. Ich habe dabei noch hervorgehoben, dass diese Abweichungen durchaus nicht er

1) Vorausgesetzt, dass die Distanz der beiden Augen gegen den imaginären Krümmungsradius des Raumes vernachlässigt werden kann.

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