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LXXXII.

Ueber das Wesen der Fäulniss und Gährung.

Aus Joh. Müller's Archiv für Anatomie und Physiologie.
Jahrgang 1843. S. 453-462.

Ueber den Grund der sogenannten freiwilligen Zersetzungprocesse des Lebens beraubter organischer Substanzen sii bisher unter Chemikern und Physiologen höchst widersprechende Ansichten herrschend gewesen. Beide Theile hatten sich überzeugt, dass solche Stoffe nicht in Fäulniss oder Gährung übergehen, wenn sie in verschlossenen Gefässen ohne Zutritt der Luft bis zum Siedepunkte erhitzt werden; Gay-Lussac zeigte ausserdem, dass auch ohne Anwendung einer erhöhte Temperatur die Gährung des Traubensaftes vermieden werdet könne, wenn man die Beeren bei sorgfältigem Abschluss der Luft unter Quecksilber auspresste. Es stimmten deshalb ale darin überein, dass jene Zersetzungen keine freiwilligen seier. sondern dass erst der Zutritt eines anderen in der Atmosphäre enthaltenen Agens den Anstoss dazu geben müsse. Da es sich nun fand, dass ein Theil des hinzugetretenen Sauerstoffes sich mit den Bestandtheilen der organischen Stoffe ver binde, so glaubten sich die meisten Chemiker zu dem Schlusse berechtigt, dass eben der Sauerstoff durch seine hervorstechende Verwandtschaft zu diesen Stoffen den Anstoss zum Zersetzungsprocesse gebe, entweder indem durch Oxydation Substanze entständen, welche durch katalytische Kraft das Zerfallen der 451 Masse bewirken, oder indem nach Liebig's Theorie der Gährung die chemische Bewegung, welche mit der Oxydation (Verwesung) verbunden sei, sich auf die übrigen Atome fort

pflanze und sich in diesen bei nicht hinreichendem Sauerstoffzutritt als blosse Metamorphose der Verbindung darstelle.

Daneben war es jedoch längst bekannt, dass sich in allen faulenden thierischen und pflanzlichen Substanzen mikroskopische Organismen in ungeheurer Zahl bilden, man hatte bei dem Streite über die Generatio aequivoca auf das sorgfältigste die Bedingungen, unter welchen sich dieselben entwickeln, bestimmt und gefunden, dass sobald ein ausgekochter fester oder flüssiger, organischer Stoff nur mit ausgekochtem Wasser und ausgeglühter Luft in Berührung kommt, weder Fäulniss noch Entwickelung von Organismen bemerkt wird, dass sich beide aber sehr bald einstellen, sobald auch nur ein Minimum von einem jener Stoffe hinzutritt, ohne vorher die Siedhitze passirt zu haben; dass ferner auch durch Beimischung starker chemischer Agentien, wie der Säuren, der schweren Metallsalze stets jene beiden Processe zugleich verhindert oder aufgehoben werden. Die immer mehr ausgebreitete Anwendung des Mikroskops lehrte bald auch die Existenz bestimmter Organismen bei der weinigen und sauren Gährung der Zuckersäfte, des Alkohols, der Milch etc. kennen. Besonders wurde Schwan's Beobachtung von der vegetabilischen Natur der Hefe von grosser Wichtigkeit, weil dieselbe eine sehr constante Form darbietet und sich durch Uebertragung der Pflanzenzellen auch in reiner Zuckerlösung, die sonst nicht gährungsfähig ist, Gährung hervorbringen lässt. Auch an diesem Processe wies Schwan nach, dass er durch ausgeglühte Luft nicht eingeleitet werden kann. In Betracht der so stetigen Verbindung zwischen den Zersetzungsprocessen und der Entwickelung mikroskopischer Organismen, sowie der Gleichheit der Mittel, durch welche beide Vorgänge gehemmt werden, kamen viele Physiologen zu der Ansicht, dass die Zersetzung nur Folge des Lebensprocesses sei, dass sich jene 455 Organismen von den zersetzten Materien genährt und die Zersetzungsproducte durch die Secretionen von sich gegeben

hätten.

Von vielen unserer grössten Chemiker wurden jedoch die meisten Facta, worauf sich diese Ansicht stützt, ignorirt und als physiologische Phantasien betrachtet. Die vegetabilische

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Natur der Hefe verwarfen sie, sich auf eine Beobachtung Ehrenberg's stützend, dass auch unorganische Niederschläge sich zuweilen zu rosenkranzförmigen und ästigen Figuren ateinander reihen. Dagegen sind in neuerer Zeit entwickeltere Formen gährungerregender Vegetabilien bekannt geworden. wie sie sich namentlich in gährendem diabetischen Harn finder. welche durch Bildung grösserer, länglicher, kernhaltiger Zellen durch deutliche Entwickelung kugeliger Sporenkörner keiner Zweifel über ihre vegetabilische Natur lassen, und welche ebenfalls fähig sind, wie ich mich selbst überzeugt habe. ir Zuckerwasser Gährung hervorzubringen. Gegen die Versuche durch welche dargethan wird, dass geglühte Luft unfähig st diese Zersetzungsprocesse einzuleiten, wirft Liebig in der letzten Ausgabe seiner Agricultur-Chemie ein, dass überlaup thierische Stoffe in reinen Gefässen viel langsamer faulen als in solchen, welche durch organische Reste verunreinigt sind: Harn und Fleisch soll sich in sorgfältig gereinigten Gefässer 2-3 Wochen ohne bemerkbare Veränderung erhalten Letzteres habe ich jedoch nie gesehen, wenigstens traten im Laufe des letzten, ziemlich warmen Sommers selbst in aus gekochten Gefässen und Stoffen, sobald sie auch nur einig Minuten nach dem Erkalten frei mit der Luft in Berührung gewesen waren, stets nach 24 bis 72 Stunden die ersten Zeichen der Fäulniss unverkennbar ein; ausserdem lässt es sich durch ganz einfache, leicht auszuführende Versuche se stringent beweisen, als überhaupt nur ein chemisches Experi ment beweisen kann, dass geglühte Luft vollkommen unfähig ist Fäulniss oder Gährung hervorzurufen.

Die Methode, deren ich mich bediente, ist folgende: E Glaskolben, der verschiedene organische Substanzen, Theile von Thieren, Fleischstücke, klare Leimlösung oder Trauben saft enthielt, wurde durch einen ganz mit Siegellack über zogenen Kork verschlossen, durch welchen zwei dünne, rechtwinkelig gebogene, dicht nebeneinander verlaufende Glasröhren führten, deren eine in eine enge Spitze ausgezogen, die andere aber horizontal in einem rechten Winkel abgebogen war. als Saugrohr zu dienen. Nachdem die Flüssigkeit des Kolbens so weit zum Kochen gebracht war, dass aus beiden Röhren

Siegellack ver

die Dämpfe stark ausströmten, wurde die eine durch etwas Siegellack geschlossen und die andere während des Erkaltens des Kolbens durch eine Spiritusflamme an einer Stelle bis zum Glühen erhitzt, und nach vollständiger Erkaltung wurde mit der Flamme bis zum Ende des Rohres allmählig hinabgegangen und das letztere gleichfalls mit schlossen. Die dabei eingeströmte Luft war meist bald nach der vollendeten Abkühlung vollständig ihres Sauerstoffes beraubt, wie ich mich durch Untersuchung derselben mittels Phosphors überzeugte. Waren die angewandten Flüssigkeiten klar z. B. Glutinlösungen, so entstand dabei ein ganz geringer Niederschlag, übrigens blieb die Flüssigkeit ungeändert. Um nun neuen Sauerstoff hinzuzubringen, erhitzte ich die beiden nebeneinanderlaufenden Röhren an einer Stelle, öffnete dann beide Enden, und sog leise durch das zweite gebogene Rohr die Luft aus dem Kolben aus, wobei von aussen neue durch die enge Oeffnung des ersten langsam einströmte und die erhitzte Stelle desselben passirte. Auf diese Art konnten beliebige Quantitäten Luft in beliebigen Zwischenzeiten hineingeschafft werden. Die einzige Veränderung, die an den organischen Materien sichtbar wurde, war eine geringe Vermehrung les Niederschlages; übrigens waren dieselben selbst in den heissesten Zeiten des Sommers nach 8 Wochen an Geruch, Geschmack, Ansehen und in ihrem Verhalten gegen Reagentien unverändert; liess man aber auch nur eine geringe Menge un- 457 geglühter Luft ein, oder war der Verschluss des Kolbens nicht ganz fest, so entstand meist schon nach 2 bis 4 Tagen Fäulniss in ihren gewöhnlichen Erscheinungen mit Infusorienbildung.

Als das empfindlichste Reagens gegen die Fäulniss zeigte ich mir für diese und andere Versuche eine mit Lackmus gefärbte klare Glutinlösung; denn ehe noch durch den Geruch. lie Fäulniss mit Sicherheit erkannt werden konnte, äusserte sie sich schon durch eine Desoxydation und Entfärbung des Pigments. Die Farbe des letzteren stellt sich schnell wieder her, wenn man die Flüssigkeit in flachen Gefässen der Luft aussetzt, oder sie mit derselben schüttelt; in geschlossenen oder engen Gefässen verschwindet sie aber sehr bald wieder,

bleibt dagegen, wenn man die Fäulniss durch Kochen unterbricht, unverändert, bis die letztere wieder von Neuem eintritt.

Hierbei ist jedoch zu bemerken, dass sich die Flüssigkeit auch ohne Fäulniss entfärbt, wenn sich darin feste Fleischtheile befinden, oder durch Oxydation eine grössere Mer : eines festen Niederschlages gebildet wird, weil sich dann der Farbstoff mit diesem verbindet; dann färbt sich die Flüssig keit auch durch Sauerstoffzutritt nicht wieder. Mit dem Mkroskop findet man in der durch Fäulniss entfärbten Flüssig keit eine fein granulirte Masse, welche sich bei 400maliger Vergrösserung als eine Zusammenhäufung kleiner Kügelche erkennen lässt, und grössere stab förmige Thiere, welche sich langsam und um ihre Längenachse rotirend fortbewegen.

Uebrigens darf man das hier aufgefundene Factum nächst nur auf die Zersetzungen der stickstoffhaltigen nähere Organbestandtheile der lebenden Wesen beziehen, namentlic auf die proteinhaltigen und leimartigen Verbindungen, inden die langsamen Zersetzungen anderer Stickstoffverbindungen Dabhängig vom Zutritt der Luft auch in verschlossenen ausgekochten Gefässen vor sich gehen. Ich habe in dieser Bziehung bis jetzt erst den Harnstoff und die Cyanwasserst-f458 säure untersucht. Ersteren stellte ich, um ihn ganz frei voz anderen thierischen Stoffen zu erhalten, aus dem cyansar Ammoniak dar, seine Zersetzung in kohlensaures Amma unterscheidet sich schon dadurch wesentlich von der Fakss dass sie in der Siedehitze schneller vor sich geht als bu ge wöhnlicher Temperatur. Ich verschloss die Lösungen åt beiden genannten Stoffe in zugeschmolzenen Glasröhren, legte sie so in kochendes Wasser; sie zersetzten sich ebest schnell, wie andere Theile derselben Lösungen, weicher. mit der Luft in Berührung waren. Ist Harn in ausgekochtz Gefässen eingeschmolzen, so geht diese langsame Zerset des Harnstoffes vor sich, ohne eine faulige Zersetzung der übrigen thierischen Stoffe hervorzurufen.

Um noch auf eine andere Weise, die Einwirkung Sauerstoffes auf organische Stoffe zu untersuchen, schloss å Fleisch, Leimlösungen, Traubensaft ausgekocht ein, bewirkte durch einen mittels Platindrähten hindurchgeleiteten

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