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kann. Fragt man aber, ob dies Motiv auch für Demokrit wirklich schon das treibende war, als er die strenge Nothwendigkeit zur Grundlage aller Naturbetrachtung machte, so muss man dabei wohl von einem Ueberblick über den ganzen hier angedeuteten Zusammenhang absehen; allein daran kann kein Zweifel sein, dass die Hauptsache vorhanden war: ein klarer Einblick in das Postulat der Naturnothwendigkeit überhaupt als Bedingung jeder rationellen Naturerkenntniss. Der Ursprung dieser Einsicht ist aber in nichts zu suchen, als im Studium der Mathematik, dessen Einfluss auch in der neueren Zeit in diesem Sinne entscheidend gewirkt hat. 3. Nichts existirt, als die Atome und der leere Raum, alles Andre ist Meinung. 19)

Hier haben wir gleich die starke und die schwache Seite aller Atomistik in einem einzigen Satze zusammen. Die Grundlage aller rationellen Naturerklärung, aller grossen Entdeckungen der Neuzeit ist die Auflösung der Erscheinungen in die Bewegung kleinster Theilchen geworden und ohne Zweifel hätte schon das klassische Alterthum auf diesem Wege zu bedeutenden Resultaten gelangen können, wenn nicht die von Athen ausgegangene Reaktion gegen die naturwissenschaftliche Richtung der Philosophie in so entscheidendem Maasse die Ueberhand gewonnen hätte. Aus der Atomistik erklären wir heute die Gesetze des Schalls, des Lichtes, der Wärme, der chemischen und physikalischen Veränderungen in den Dingen im weitesten Umfange, und doch vermag die Atomistik heute so wenig, wie zu Demokrits Zeiten, auch nur die einfachste Empfindung von Schall, Licht, Wärme, Geschmack u. s. w. zu erklären. Bei allen Fortschritten der Wissenschaft, bei allen Umbildungen des Atombegriffs ist diese Kluft gleich gross geblieben und sie wird sich um nichts verringern, wenn es gelingt, eine vollständige Theorie der Gehirnfunktionen aufzustellen und die mechanischen Bewegungen sammt ihrem Ursprung und ihrer Fortsetzung genau nachzuweisen, welche der Empfindung entsprechen, oder anders ausgedrückt, welche die Empfindung bewirken. Die Wissenschaft darf nicht daran verzweifeln, mittelst dieser gewaltigen Waffe dahin zu gelangen, selbst die verwickeltsten Handlungen und die bedeutungsvollsten Bewegungen eines lebenden Menschen nach dem Gesetze der Erhaltung der Kraft aus den in seinem Gehirn unter Einwirkung der Nervenreize frei werdenden Spannkräften abzuleiten, allein es ist ihr auf ewig verschlossen, eine Brücke zu finden, zwischen

dem, was der einfachste Klang als Empfindung eines Subjektes, als meine Empfindung ist und den Zersetzungsprozessen im Gehirn, welche die Wissenschaft annehmen muss, um diese nämliche Schallempfindung als einen Vorgang in der Welt der Objekte zu erklären.

In der Art, wie Demokrit diesen gordischen Knoten zerhieb, ist vielleicht noch die Nachwirkung der eleatischen Schule zu spüren. Diese erklärte Bewegung und Veränderung überhaupt für Schein, und zwar für nichtigen Schein schlechthin. Demokrit beschränkte dieses verwerfende Urtheil auf die Sinnesqualitäten. „Nur in der Meinung besteht das Süsse, in der Meinung das Bittre, in der Meinung das Warme, das Kalte, die Farbe; in Wahrheit besteht nichts als die Atome und der leere Raum.“ 20)

Da ihm sonach das unmittelbar Gegebene, die Empfindung, etwas Trügerisches hatte, so ist leicht begreiflich, dass er klagte, die Wahrheit liege tief verborgen und dass er dem Nachdenken ein grösseres Gewicht für die Erkenntniss beilegte, als der unmittelbaren Wahrnehmung. Sein Nachdenken bewegte sich in Begriffen, die mit Anschauung verbunden und eben deshalb zur Naturerklärung überhaupt tauglich waren. Diese beständige Zurückführung aller Hypothesen auf die Anschauung im Bilde der Atombewegungen schützte Demokrit vor den Folgen einer einseitigen Deduktion aus Begriffen.

4. Die Atome sind unendlich an Zahl und von unendlicher Verschiedenheit der Form. In ewiger Fallbewegung durch den unendlichen Raum prallen die grösseren, welche schneller fallen, auf die kleineren; die dadurch entstehenden Seitenbewegungen und Wirbel sind der Anfang der Weltbildung. Unzählige Welten bilden sich und vergehen wieder nebeneinander wie nacheinander. 21)

Die Grossartigkeit dieser Vorstellung ist im Alterthum oft schlechthin als ungeheuerlich betrachtet worden und doch steht sie unsern gegenwärtigen Anschauungen näher als die Ansicht des Aristoteles, der a priori bewies, dass es ausser seiner in sich geschlossenen Welt keine zweite geben könne. Wir kommen bei Epikur und Lukrez, wo wir vollständiger unterrichtet sind, auf den Zusammenhang dieser Weltanschauung zurück; hier sei nur erwähnt, dass wir allen Grund haben, anzunehmen, dass sämmtliche Züge der epikurischen Atomistik, von denen wir nicht ausdrücklich das

Gegentheil wissen, von Demokrit herstammen. Epikur wollte, dass die Atome zwar unendlich an Zahl, aber nicht unendlich verschieden an Formen seien. Wichtiger ist seine Neuerung in Beziehung auf den Ursprung der Seitenbewegung.

Hier giebt uns Demokrit eine durchaus consequente Darstellung, die zwar vor der heutigen Physik nicht Stand hält, aber doch zeigt, dass der griechische Denker seine Speculationen, so gut es damals möglich war, nach streng physikalischen Grundsätzen ausbildete. Von der irrigen Ansicht ausgehend, dass grössere Massen (gleiche Dichtigkeit vorausgesetzt) schneller fallen als kleine, liess er die grösseren Atome in ihrem Falle die kleineren einholen und anstossen. Da nun die Atome verschiedenartige Gestalt haben und der Stoss in der Regel kein centraler sein wird, so müssten hieraus auch nach unserer heutigen Mechanik Drehungen der Atome um ihre Axe und Seitenbewegungen hervorgehen. Einmal gegeben müssen sich die Seitenbewegungen nothwendig immer verwickelter gestalten und da der Aufprall immer neuer Atome auf eine bereits in Seitenbewegung befindliche Schicht stets neue lebende Kraft giebt, so kann man annehmen, die Bewegung werde immer heftiger. Aus den Seitenbewegungen ergeben sich dann in Verbindung mit der Rotation der Atome mit Leichtigkeit auch Fälle rückläufiger Bewegung. Wenn nun in einer so durcheinandergerüttelten Schicht die schwereren (d. h. grösseren) Atome beständig einen stärkeren Zug nach unten behalten, so werden sie sich schliesslich im unteren, die leichten dagegen im oberen Theile der Schicht zusammenfinden. 22)

Die Basis dieser ganzen Theorie, die Lehre vom schnelleren Fall der grösseren Atome griff nun aber Aristoteles an und es scheint, dass Epikur sich dadurch bestimmen liess, unter Beibehaltung des ganzen übrigen Gebäudes seine unmotivirten Abweichungen der Atome von der graden Linie zu erfinden. Aristoteles nämlich lehrte, wenn es einen leeren Raum geben könnte, was er für unmöglich hält, so müssten in demselben alle Körper gleich schnell fallen, da der Unterschied in der Schnelligkeit des Fallens durch die verschiedne Dichtigkeit des Mediums, wie z. B. Wasser und Luft, bedingt werde. Der leere Raum habe gar kein Medium, also gebe es in ihm auch kein Verhältniss im Fall der Körper. Aristoteles traf hier, wie auch in seiner Lehre von der Gravitation nach der Mitte des Universums im Resultat mit der heutigen Natur

Lange, Gesch. d. Materialismus.

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wissenschaft zusammen. Seine Deduktion ist aber nur stellenweise rationell und mit Spitzfindigkeiten gemischt von ganz gleicher Art, wie diejenigen, durch welche er die Unmöglichkeit aller Bewegung im leeren Raume darzuthun sucht. Epikur machte die Sache kürzer und schliesst einfach: weil im leeren Raume gar kein Widerstand ist, so müssen alle Körper gleich schnell fallen; scheinbar völlig übereinstimmend mit der heutigen Physik, aber auch nur scheinbar, denn die richtige Vorstellung vom Wesen der Gravitation und des Falles fehlte den Alten gänzlich.

Immerhin ist es nicht uninteressant zu vergleichen, wie Galilei, sobald er nach mühsamem Suchen auf das wahre Fallgesetz gelangt war, alsbald a priori den Schluss wagte, dass im leeren Raum alle Körper gleich schnell fallen werden; geraume Zeit bevor dies mittelst der Luftpumpe als Thatsache erwiesen werden konnte. Es wäre noch zu untersuchen, ob bei diesem Schluss Galileis nicht Reminiscenzen aus dem Aristoteles oder aus Lucrez mitgewirkt haben! 23)

5. Die Verschiedenheit aller Dinge rührt her von der Verschiedenheit ihrer Atome an Zahl, Grösse, Gestalt und Ordnung; eine qualitative Verschiedenheit der Atome findet nicht statt. Die Atome haben keine „inneren Zustände"; sie wirken aufeinander nur durch Druck und Stoss. 24)

Wir haben beim dritten Satz gesehen, dass Demokrit die Sinnesqualitäten, wie Farbe, Schall, Wärme u. s. w. als bloss täuschenden Schein auffasste, was nichts Andres sagen will, als dass er die subjektive Seite der Erscheinungen, die doch einzig unmittelbar gegeben ist, gänzlich aufopferte, um eine objektive Erklärung derselben um so konsequenter durchführen zu können. So befasste sich denn auch Demokrit in der That höchst eingehend mit Untersuchungen über dasjenige, was im Objekt den Empfindungsqualitäten zu Grunde liegen müsse. Nach der Verschiedenheit der Zusammenstellung der Atome in einem „Schema", das uns an die Schemata unsrer Chemiker erinnern kann, richten sich unsre subjektiven Eindrücke. 25)

Aristoteles tadelt, dass Demokrit alle Arten von Empfindung auf eine Art von Tastempfindung zurückgeführt habe, ein Vorwurf, der sich in unsern Augen eher zu einem Lobe gestalten wird.

Der dunkle Punkt liegt dann aber eben in der Tastempfindung selbst.

Wir können uns recht wohl zu dem Standpunkte erheben, sämmtliche Empfindungen als modificirte Tastempfindung zu betrachten; liegen doch auch für uns hier noch ungelöste Räthsel genug! Aber wir können nicht mehr so naiv über die Frage hinweggehen, wie sich die einfachste und elementarste aller Empfindungen zu dem Druck oder Stoss verhält, der sie veranlasst. Die Empfindung ist nicht in dem einzelnen Atom und noch weniger in einer Summe; denn wie könnte sie durch den leeren Raum hindurch in Eins zusammenfliessen? Sie wird in ihrer Bestimmtheit hervorgebracht durch eine Form, in welcher die Atome zusammenwirken. Der Materialismus streift hier an Formalismus, was Aristoteles nicht vergessen hat, hervorzuheben. 26) Während dieser aber die Formen in transscendenter Weise zu Ursachen der Bewegung erhob und damit jede Naturforschung in der Wurzel verdarb, hütete sich Demokrit, die in die Tiefe der Metaphysik führende formalistische Seite seiner eigenen Anschauung weiter zu verfolgen. Hier bedurfte es erst der Kant'schen Vernunftkritik, um einen ersten schwachen Lichtstrahl in den Abgrund eines Geheimnisses zu werfen, das nach allen Fortschritten der Naturerkenntniss doch heute noch so gross ist, wie zu den Zeiten Demokrits.

6. Die Seele besteht aus feinen, glatten und runden Atomen, gleich denen des Feuers. Diese Atome sind die beweglichsten und durch ihre Bewegung, die den ganzen Körper durchdringt, werden die Lebenserscheinungen hervorgebracht. 27)

Also auch hier ist die Seele, wie bei Diogenes von Apollonia, ein besonderer Stoff; auch nach Demokrit ist dieser Stoff durch das ganze Weltall vertheilt, überall die Erscheinungen der Wärme und des Lebens hervorrufend. Demokrit kennt daher einen Unterschied zwischen Seele und Körper, der den Materialisten unsrer Zeit sehr wenig munden würde, und er weiss diesen Unterschied ganz wie es sonst die Dualisten thun, für die Ethik auszubeuten. Die Seele ist das Wesentliche am Menschen; der Körper ist nur das Gefäss der Seele; für diese müssen wir in erster Linie sorgen. Das Glück wohnt in der Seele; körperliche Schönheit ohne Verstand ist etwas Thierisches. Man hat sogar Demokrit die Lehre von einer göttlichen Weltseele zugeschrieben, allein er meint damit

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